Lieber Michi,
es ist ja das eine, kritisch zu sein und nicht alles zu glauben, was zum Beispiel die Vertreter von Pharmaindustrie oder Großbanken etc. erzählen.
Etwas anderes ist es aber, selbst ernannten Durchblickern zu glauben, die als einzige oder als kleine Schar Auserwählter eine Weltverschwörung aufgedeckt haben. Wenn Menschen wie Naidoo, Hildmann oder die legendäre, nicht mehr unter uns weilende Berliner Lokalgröße Dr. Axel Stoll plötzlich eine allem bisher gelehrten Wissen entgegengesetzte "Wahrheit" finden, bin ich erstmal sehr sehr sehr mißtrauisch, vor allem wenn es noch mit brauner Ideologie oder ähnlichem verquickt wird.
Also ja: es wundert nicht, dass Menschen der Pharmaindustrie nicht alles glauben und auch nicht Bill Gates für einen Wohltäter der Menschheit halten, aber es wundert mich schon sehr, dass vor allem solche abstrusen Gerüchte aufkommen.
Und nicht alle Leute, die studiert haben, sind Wissenschaftler. Dazu gehört noch eine intensive und dauerhafte Beschäftigung mit dem Fachgebiet, weil das Wissen ständig wächst. Ich verstehe mit dem Wissen aus meinem weit zurückliegenden Studium von den meisten Teilbereichen nur noch Grundlagen, kann aber zu neuesten Erkenntnissen kaum etwas sagen; das geht nur in den Gebieten, mit denen ich mich weiter befasst habe. Ich verstehe aber, wie wissenschaftliche Arbeit in meinem Studienfach funktioniert und kann daher oft erkennen, ob Zahlen und Thesen seriös sind und überhaupt stimmen können. Wenn also ein HNO-Arzt aus Süddeutschland glaubt, er sei Deutschlands einziger fähiger Infektiologe und Epidemiologe, dann beweist das eher, dass es auch in der Medizin genauso viele psychisch Kranke, Angeber, Narzissten und leicht Beeinflussbare gibt wie in der übrigen Bevölkerung.
Wissenschaft ist in den meisten Fällen nicht ja oder nein oder Strom fließt oder fließt nicht, wenn mir der Vergleich erlaubt ist...
Gerade wenn es um lebende Organismen geht, oder eben auch um Viren, bei denen sich die Wissenschaftler ja auch streiten, ob sie als lebendig gelten sollen, gibt es oft unterschiedliche Meinungen, aber keine reine Wahrheit. Dieses Virus heisst nicht umsonst "neu", und es ist vieles (wie auch bei anderen Viren, die wir viel länger kennen), noch nicht verstanden. Es ist also ganz normal, dass der eine so und der andere anders redet. Aber dann ist es sinnvoll, auf die Mehrheit der Expertenmeinungen zu hören, weil die Chance am größten ist, dass diejenigen, die sich am intensivsten damit befassen, auch am Besten Bescheid wissen.
Wir werden wahrscheinlich in ein oder zwei Jahren feststellen, dass Dinge falsch gemacht wurden, dass manches nicht hätte verboten werden müssen, dass vielleicht anderes hätte verboten werden sollen.
Aber jetzt können wir das noch nicht wissen, und das sagen Dir auch die ernst zu nehmenden Experten. Diejenigen, die jetzt schon hundertprozentig wissen, was richtig und falsch ist, sollte man nicht ernst nehmen.